Forschungsbereiche
Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik, Literatur- und Texttheorie
Projektbeschreibung
Der Ausgangspunkt: die Krise der Interpretation
Ist das, was man den „Sinn eines Texts“ nennt, mehr als ein bloßer Interpretationseffekt? Diese Frage führt mitten hinein in die vieldiskutierte Krise der Interpretation, die jede Methodik des Interpretierens auf eine ideologische Praxis reduziert: Wenn ein Text erst durch die Interpretation Sinn erhält, dann ist dieser notwendigerweise Ausdruck der Vorurteile, Interessen und Intentionen des Interpreten. Dann wäre das, was man „lesen“ nennt, ein „Hineinlesen“, also letztlich eine Projektion des Sinns in den Text. Aber was bedeutet dann überhaupt „lesen“? Die Krise hat dazu geführt, dass die Metapher vom Lesen als einem „In-das-Gesprächkommen mit dem Text“ (Hans-Georg Gadamer in Wahrheit und Methode 1960, 350) zweifelhaft geworden ist und sich der Verdacht aufgedrängt, dass das Lesen vielleicht nur ein Gespräch des Lesers mit sich selbst sei, ein Selbstgespräch, wie es Klaus Weimar unumwunden formuliert:
Es wird niemand, hartnäckig bis an die Grenze der Belästigung bearbeitet, das widerwillige Eingeständnis verweigern, daß, wenn man es denn unbedingt so genau nehmen will, wir selbst lesend zu uns sprechen und niemand anderes. (Weimar 1999, 56).
Ein erster Schritt zur Überwindung der Krise bildet die Erkenntnis, dass sie keineswegs alle Formen des Lesens gleichermaßen betrifft, sondern vor allem der Dominanz einer ebenso alten wie einflussreichen Lesepraxis geschuldet ist, der auslegenden Interpretation.
Die auslegende Interpretation als Problem
Die Geschichte der auslegenden Interpretation reicht zurück bis in der Antike, sie beginnt mit den allegorischen Homer-Kommentierungen der Stoiker und prägt das gesamte christliche Mittelalter in der Form der typologischen Bibelauslegung. Ihre Grundlage bildet ein einfaches Substitutionsprinzip: Der wörtliche Sinn des Textes, der sensus litteralis, wird in den geistigen Sinn der Auslegung, den sensus spiritualis, überführt. Auf diese Weise ist es möglich, die Liebeslyrik des Hoheliedes in der jüdischen Bibel als allegorische Schilderung der Vereinigung der Kirche, als Braut Christi, mit dem Heiland, als göttlichem Bräutigam, zu lesen. Linguistisch lässt sich das Verfahren der auslegenden Interpretation auf das Prinzip des dekodierenden Lesens zurückführen, auf jene basale Leseform, bei der die Zuordnung zwischen zwei sprachlichen Ordnungen vorgenommen wird, nämlich der Buchstaben, genauer gesagt der Grapheme, und der „Laute“, der Phoneme. Zweifellos stellen dekodierende Leseakte eine grundlegende Technik für das Entziffern alphabetschriftlicher Texte dar, aber mit der Graphem-Phonemzuordnung ist der Leseakt noch nicht hinreichend beschrieben, denn das dekodierende Lesen erstreckt sich ausschließlich auf die Buchstaben- und Wortbilderkennung, d.h. auf die semiotische Ebene der Lesetätigkeit. Die semantische Ebene, die Ebene der Textualität und damit auch des Sinnverstehens, lässt sich nicht in dieser Weise beschreiben.
Systemisch lesen: hören, was der Text macht
Lesen ist mehr als das Dekodieren von Zeichen, mehr als die Zuweisung eines Lautes zu einem Buchstaben, aber eben auch mehr als die Identifikation einer Wortbedeutung über ein Wortbild, denn schon auf der Ebene des Satzes gibt es keine Codierungsanweisung, die das Lesen auf eine semiotische Routine zurückführen könnte (Lies das Zeichen „A“ als Bedeutung „B“). Gesucht werden daher andere Modelle für die Tätigkeit des Lesens und Verstehens von Texten. Im Zentrum des an die Arbeiten von Henri Meschonnic anknüpfenden Forschungsprojekts steht mit dem systemischen Lesen eine Lesepraxis, die außerhalb des Form-Inhalt-Dualismus des Zeichens angesiedelt ist. Sie ist so alt wie das Lesen selbst oder vielmehr noch älter, da ihre Wurzeln nicht im Leseakt selbst liegen, sondern im Hören auf das, was im Sprechen vernehmbar wird: die Sinnaktivität eines Äußerungsaktes. Beim systemischen Lesen geht es buchstäblich um ein hörendes Lesen, ein Lesen, das die Sinngliederung der geschriebenen Rede als Sprechereignis und damit als sprachliche Handlung realisiert. Damit eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Frage nach Sinn des Textes: Sinn ist nicht mehr etwas, das einem Text entnommen (oder eben zugewiesen) wird, sondern das, was in der Realisierung des Textes als Sprechereignis erfahrbar wird. Der Sinn ist eine semantische Aktivität des Textes, keine semiotische Substanz. Sinnverstehen beim Lesen bedeutet dann, die Sinnaktivität des Textes wahrzunehmen und zu reflektieren. Dazu ist es notwendig, die systemischen Bezüge der kleinen und großen Einheiten des Textes als Artikulationsgefüge nachzuvollziehen. Sinn setzt ja immer das Vorhandensein eines systemischen Zusammenhangs voraus, insofern sind die Begriff „Sinn“ und „Kohärenz“ Synonyme. Das gilt auch für das literarische Verstehen, aber hier kommt noch etwas hinzu: die Rezeption und Rekonstruktion der semantischen Performativität, die sich aus der systemischen Artikulation des Textes ergibt. Literarisches Lesen ist daher ein systemisches Lesen, das hört, was ein Text macht durch die Art und Weise seiner spezifischen Sinngliederung. Auch wenn ein solches hörendes Lesen nichts grundsätzlich Neues darstellt, ist es doch alles andere als selbstverständlich. Weder in der Literaturwissenschaft noch in der Literaturdidaktik wurden bislang theoretische oder konzeptuelle Vorschläge zur Lehr- und Lernbarkeit des Zusammenspiels zwischen literarischer Erfahrung und systemischer Sinnartikulation im Text entwickelt. Dieses Desiderat greift das vorliegende Forschungs- und Entwicklungsprojekt auf.
Konzepte für den Deutschunterricht
Ziel des Projekts ist es, die theoretischen und didaktischen Voraussetzungen für eine Transformation der schulischen Praxis des Interpretierens zu schaffen. Entwickelt werden Alternativen zu den Routinen des Form-Inhalt-Dualismus, die den interpretierenden Umgang mit literarischen Texten im Deutschunterricht nach wie vor dominieren. Im Zentrum steht die Erarbeitung von Methoden und Verfahren, die es den Lernenden ermöglichen, ausgehend von den beim Lesen oder Hören eines Textes gemachten Erfahrungen zur Rekonstruktion und Reflexion der Sinnaktivität des Textes zu gelangen. Beispiele für die literaturdidaktische Umsetzung dieses Ansatzes in allen Schulformen und Jahrgangsstufen finden sich in dem gemeinsam mit Ulrike Siebauer erarbeiteten Praxisband „Hochform@lyrik“ (2021, 3. Auflage).
Publikationen
- Zusammen mit Ulrike Siebauer: hochform@lyrik. Konzepte und Ideen für einen erfahrungsorientierten Lyrikunterricht. 3., überarbeitete Auflage. Regensburg: vulpes 2021. (Informationen und Leseproben aus dem Buch finden Sie hier)
- Unter Ausschluss der Poetik. Literaturtheoretische Prämissen bei der Aufgabenkonstruktion. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Themenheft „Prüfungsformate“, hrsg. von Torsten Mergen, 67, (2020), H. 2, S. 136–149.
- Celans Kritik der Poetik. Eine Atemwende für den Gedichtunterricht. In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes. Themenheft „Probleme germanistischer Deutschlehrer/-innenausbildung“, hrsg. von Jens Birkmeyer und Constanze Spies , 61, (2014), H. 2, S. 164–173.
- Poetisches Verstehen bei der Unterrichtsvorbereitung. Überlegungen zur literaturunterrichtlichen Sachanalyse. In: Iris Winkler / Nicole Masanek / Ulf Abraham (Hgg.): Poetisches Verstehen: Literaturdidaktische Positionen – empirische Forschung – Projekte aus dem Deutschunterricht. Hohengehren: Schneider 2010. S. 82–97.
- Ist das literarische Lesen eine Kompetenz? Überlegungen zur Kompetenzorientierung in den Bildungsstandards. In: Hermann von Laer (Hg.): Was sollen unsere Kinder lernen? Zur politischen Diskussion nach den PISA-Studien. Berlin: Lit Verlag 2010. S. 41–56.
- Gedichtanalyse als didaktisches Problem. Gibt es eine Alternative zur Form-Inhalt-Interpretation? In: Eduard Haueis und Peter Klotz (Hgg.): Ästhetik der Sprache – Sprache der Ästhetik. OBST – Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie, 2009, H. 76. S. 85–105.
- Zwischen Wort und Wort. Interpretation und Textanalyse. Paderborn: Fink 2006. (Informationen und Leseproben aus dieser Publikation finden Sie hier)
- Lesen, was ein Text macht – Auf dem Weg zu einem anderen Lesen. In: Didaktik Deutsch, 11/2001, S. 22–37.
- Wer ist der Steuermann? Annäherungen an eine Erzählung von Franz Kafka. In: Wirkendes Wort 3/2001. S. 388–400.