Materialien

Die Materialien auf dieser Seite können kostenlos heruntergeladen werden. Sie enthalten Übungen und Unterrichtsideen, die ab der fünften Jahrgangsstufe eingesetzt werden können. Wer wissen will, wie sich der Lernparcours in eine Unterrichtseinheit zum hörenden Lesen von Gedichten integrieren lässt, kann den den Artikel „Arbeit mit Sprechgestaltungen beim Umgang mit Lyrik (5./6 Klasse)“ (in: Praxis Deutsch, Themenheft „Lyrik verstehen“ (2009), H. 213, S. 23–25) zu Rate ziehen. In dem Band „hochform@lyrik. Konzepte und Ideen für einen erfahrungsorientierten Lyrikunterricht“ (2011, vulpes) finden Sie weitere Ideen für den hörenden Umgang mit Gedichten.

1 Was heißt „hörendes Lesen“?

Hören und Lesen sind verwandte Tätigkeiten. Wer zuhört, rekonstruiert aus dem Lautstrom, den er gerade wahrnimmt, ein sprachliches Gefüge, in dem alle Teile (Silben, Wörter, Wortgruppen) zu einem verstehbaren Ganzen verknüpft werden. Wie anspruchsvoll diese Sprachleistung ist, beweist die Tatsache, dass man zwar stundenlang sprechen, aber, wie Untersuchungen gezeigt haben, nicht länger als 45 bis 60 Minuten konzentriert zuhören kann. Ähnlich hoch sind die Anforderungen an das Lesen, bei dem es ebenfalls darum geht, aus einer Vielzahl von einzelnen Segmenten ein verstehbares Sinngebilde zu konstruieren. Der Begriff „hörendes Lesen“ wäre aber nicht mehr als eine Tautologie, wenn er lediglich auf diese offensichtliche Übereinstimmung hinweisen wollte. Tatsächlich steht er im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung vom Lesen als einer rein kognitiven Tätigkeit. Auf dieser Auffassung beruhen etwa die Ratschläge der beliebten „speed-reading“-Ratgeber („Erhöhen Sie Ihr Lesetempo, indem Sie Ihre innere Stimme zum Schweigen bringen und sich nur auf die Bedeutung konzentrieren“). Hier wird eine Trennbarkeit von Laut und Bedeutung suggeriert, die es so nicht gibt, wie ein einfaches Umkehrexperiment beweist: Versuchen Sie einmal jemandem zuzuhören, der Ihre Muttersprache spricht, indem Sie nur auf die Laute, nicht aber auf die Bedeutung der Wörter achten. Das ist ebenso wenig möglich wie die beim Schnelllesen geforderte reine Realisierung der Bedeutung ohne Rückgriff auf die Lautlichkeit. Einer ähnlichen Illusion unterliegen lesepsychologische Modelle, welche die phonologische Sprachgestalt den „hierarchieniedrigen“ Prozessen zuschlagen und damit suggerieren, dass die Lautlichkeit der Sprache und ihre Sinnhaftigkeit getrennte Sphären bilden.

Der empirische Schwachpunkt dieser Annahme bilden diejenigen Formen des Lesens, die eine poetische Aufmerksamkeit verlangen, also das gestaltende Vorlesen für andere, aber auch ganz allgemein jedes intensive Lesen von Gedichten, Theaterstücken, Romanen, aber auch von stilistisch anspruchsvollen Sachtexten oder Essays. In all diesen Fällen kann die jeweilige sprachliche Gestaltung des Textes nicht nur nicht von seiner semantischen Seite getrennt werden, sondern bedarf einer bestimmten Form der Hörbarmachung, damit das Lesen zur Sinnerfahrung werden kann. Überall dort, wo eine sprachliche Wirkungsweise in einen Text eingeschrieben ist, kann sie nicht von dessen jeweiliger Sprachgestalt abstrahiert werden. Es gibt offensichtlich so etwas wie eine Sinnlichkeit des Sinns, die erklärt, warum sich das besondere Wirkungspotential eines Textes nur dann entfaltet, wenn dessen Sprachgestaltung sinnlich, nämlich sprechend und hörend, nachvollzogen wird. Ein Gedicht kann man eben nicht einfach – jedenfalls wenn m,an seine poetische Charakteristik erfahren will – überfliegen, man muss es innerlich oder äußerlich nachsprechen. Das gilt für viele andere Texte auch und vor allem dann, wenn diese sprachlich anspruchsvoll gestaltet sind.

Insofern lässt sich Lesen als Vorgang verstehen, bei dem eine Buchstabenfolge in ein Sprechereignis verwandelt wird. Der Text wird dabei stimmlich erfahren, als Stimme wahrgenommen, mit der für ihn charakteristischen Stimmlichkeit. Das hörende Lesen kann somit als diejenige Leseweise definiert werden, bei der sowohl beim lauten als auch beim leisen Lesen eine maximale Realisierung der Stimmlichkeit im Textes erreicht wird. Diese Stimmlichkeit ist keine Projektion des Lesers, sondern ein Effekt der rhythmischen Gestaltung des Textes, die man, wie Henri Meschonnic in Critique du rythme (1982) gezeigt hat, beschreiben und analysieren kann. Es gibt bekanntlich – was fast schon ein Klischee ist, so oft wurde es gesagt – einen „Sound“ in den Gedichten von Sarah Kirsch oder von Mascha Kaléko, der sich z.B. von der Stimmlichkeit bei Ingeborg Bachmann, Hilde Domin oder Günter Kunert deutlich unterscheidet. Das Gleiche gilt für Theodor Fontane oder Eugen Ruge, für Walter Kempowski oder Wolfgang Herrndorf. Hörendes Lesen ist ein Lesen, das diese in den Text eingeschriebene Sprechgestaltung und deren Wirkungsweise erfahrbar macht. Das gilt gleichermaßen für das laute wie für das leise Lesen, in jedem Fall verlangt es ein Höchstmaß an Konzentration im Leseakt.

Ausgehend vom Begriff des hörenden Lesens lässt sich erklären, warum dem literarischen Lesen in allen seinen Spielarten ein zentraler Platz innerhalb der Leseförderung zukommen muss – und warum die Leseförderung unbedingt mit der Schulung des Zuhörens beginnen sollte. Kinder, die Vorleseerfahrungen mitbringen, haben es in der Regel leichter, die Stimmlichkeit im Text zu rekonstruieren und zu reartikulieren. Wer nur Buchstaben lesen kann, kann auch diese nicht lesen. Wer dagegen in der Zeichenfolge schon die Sprechbewegung antizipiert, wird den Sprung vom Entziffern zum Verstehen leichter vollziehen. Die hier vorgestellten Materialien bilden keinen in sich geschlossenen Lehrgang, sondern sollen nur als Anregung für die Entwicklung eigener Ideen dienen. Es ging uns darum, den Zusammenhang von Sprechen, Hören und Lesen durch die Arbeit mit Gedichten erfahrbar zu machen. Dabei ist uns bewusst, dass das hörende Lesen auch beim Umgang mit allen anderen Formen von Literatur – und mit nicht-literarischen Texten – nachhaltig gefördert werden kann.

2 Ein Modell des hörenden Lesens

Weitere Informationen zu den theoretischen Grundlagen des Konzepts finden Sie hier.

3 Einige Übungen für das hörende Lesen

Der folgende Lernparcours für das hörende Lesen (als pdf-Datei) kann in Stationen von den Schülern selbstständig erarbeitet werden.

4 Mit kurzen Gedichten beginnen

Im Anschluss an den Lernparcours können die Schüler das Gelernte beim hörenden Umgang mit Gedichten anwenden. Es empfiehlt sich, zunächst mit kurzen, relativ einfach verständlichen Texten zu beginnen. (z. B. Michael Ende: Kaulquappe, Oskar Loerke: Vogelbotschaft unterm Regenbogen, Wilhelm Buch: Die erste alte Tante sprach, Georg Britting: Die Raubritter). Jeweils zwei 4er-Gruppen bekommen den gleichen Text vorgelegt. Die Schüler sollen den Text erst ganz lesen und dann eine Sprechpartitur entwickeln, indem sie den einzelnen Versen die bereits aus dem Lernparcours bekannten blauen Kärtchen mit unterschiedlichen Sprechweisen und/oder die gelben Kärtchen mit den Sprechformen zuordnen. Bei der Textauswahl bzw. bei der Aufteilung der Texte auf die einzelnen Gruppen bietet sich die Möglichkeit der Leistungsdifferenzierung.

Hier finden Sie die Kärtchen für die Sprechpartituren mit den Sprechformen und -stimmungen.

Und sind die Vorlagen für Sprechpartituren zu folgenden Gedichten:

Wilhelm Busch: „Fink und Frosch“ (Sprechpartitur)

Wilhelm Busch: „Die erste alte Tante sprach“ (Sprechpartitur)

Oskar Loerke: „Vogelbotschaft unterm Regen“ (Sprechpartitur)

Georg Britting: „Die Raubritter“ (Sprechpartitur)

Michael Ende: „Die Kaulquappen“ (Sprechpartitur)

5 Die Königsdiziplin: Umgang mit Balladen

Wenn die Schüler erste Erfahrungen mit Sprechpartituren gesammelt haben, können sie bereits in der Unterstufe komplexere und längere Gedichte erarbeiten und inszenieren. Hier finden Sie Materialien zum Herstellen einer Sprechpartitur zu Friedrich Hebbels Ballade „Aus der Kindheit“.

a) das Gedicht „Aus der Kindheit„, b) Kärtchen für die Sprechweisen und c) Vorlage für die Sprechpartitur (als pdf-Datei)

6 Anregungen oder Kritik?

Das Konzept des hörenden Lesens wird von uns in enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Schulen weiterentwickelt. Wir freuen uns daher über Rückmeldungen mit Erfahrungsberichten, Tipps und Ergänzungsvorschlägen zu den Materialien.

Ulrike Siebauer
E-Mail: ulrike.siebauer@sprachlit.uni-regensburg.de
Website: Homepage an der Universität Regensburg

Hans Lösener
E-Mail: loesener@ph-heidelberg.de
Website: www.loesener.de

Für die Erlaubnis das Gedicht „Die Raubritter“ von Georg Britting an dieser Stelle abzudrucken, danken wir der Georg-Britting-Stiftung.